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Krieg in Osteuropa Uno wirft Russland und Ukraine willkürliche Exekution von Gefangenen vor

»Wir sind zutiefst besorgt«: Eine Uno-Vertreterin hat Zahlen zur Hinrichtung von ukrainischen und russischen Kriegsgefangenen veröffentlicht. Sie lassen sich nicht direkt vergleichen, zeigen aber brutale Gewalt auf beiden Seiten.
Massengrab in Isjum: Nach dem Abzug der Russen wurden die Toten exhumiert, um vermutete Kriegsverbrechen aufzuklären

Massengrab in Isjum: Nach dem Abzug der Russen wurden die Toten exhumiert, um vermutete Kriegsverbrechen aufzuklären

Foto: SAMEER AL-DOUMY / AFP

Die Vereinten Nationen haben sowohl Russland als auch die Ukraine beschuldigt, Kriegsgefangene ohne Gerichtsverfahren willkürlich hinzurichten. Man sei »zutiefst besorgt« über diese Exekutionen, sagte die Leiterin der Uno-Mission zur Überwachung der Menschenrechte in der Ukraine, Matilda Bogner, bei einer Pressekonferenz in Kiew.

Im Ukrainekrieg haben nach Angaben Bogners beide Seiten Gefangene ohne Prozess und Anklage hingerichtet. »Wir sind zutiefst besorgt über die Hinrichtung von bis zu 25 russischen Kriegsgefangenen und außer Gefecht gesetzten Personen durch die ukrainischen Streitkräfte, die wir dokumentiert haben«, sagte die Uno-Vertreterin. Die Menschen seien »unmittelbar nach ihrer Festnahme auf dem Schlachtfeld« exekutiert worden. Der Uno sind demnach laufende Ermittlungen von ukrainischer Seite in fünf Fällen mit 22 Opfern bekannt. Es seien jedoch keine Verurteilungen von Tätern bekannt.

Auf der anderen Seite seien die Vereinten Nationen ebenfalls »zutiefst besorgt« über »die summarische Hinrichtung von 15 ukrainischen Kriegsgefangenen kurz nach ihrer Gefangennahme durch russische Streitkräfte«, fuhr Bogner fort. Elf dieser Menschen seien von der russischen Söldnergruppe Wagner getötet worden. Anfang März hatte ein Video einer mutmaßlichen Hinrichtung eines ukrainischen Kriegsgefangenen weltweit für große Empörung gesorgt.

Direkt lassen sich diese konkreten Zahlen allerdings nicht miteinander vergleichen. Russland gewährt den Vereinten Nationen keinen Zugang zu ukrainischen Kriegsgefangenen, wie Bogner betonte. Es ist daher davon auszugehen, dass auf russischer Seite weitaus mehr Kriegsverbrechen begangen werden, die momentan aber noch nicht zweifelsfrei belegt werden können.

Kiew kritisiert die Uno-Angaben

In dem nun veröffentlichten Uno-Bericht schildern ehemalige russische und ukrainische Kriegsgefangene zudem schwerste Folter und Missbrauch durch die jeweils andere Kriegspartei.

Ukrainische Kriegsgefangene berichten demnach unter anderem von Schlägen mit Schaufeln, Elektroschocks, Scheinhinrichtungen, sexueller Gewalt, der Verweigerung von Nahrung und Trinkwasser sowie auch von dringend notwendiger medizinischer Hilfe in russischer Haft. »Sie haben uns nicht nur geschlagen, sondern gebrochen«, heißt es in diesen Schilderungen.

Russische Kriegsgefangene berichten dem Uno-Report zufolge ihrerseits von Schlägen als »reiner Vergeltung« unter anderem für die russischen Kriegsverbrechen in Butscha, Elektroschocks und Androhungen von Tötung oder sexueller Gewalt durch die ukrainischen Kräfte. »Sie haben mir vor dem Verhör eine blutige Axt als Warnung gezeigt«, wird ein russischer Kriegsgefangener zitiert.

Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez widersprach den Angaben der Vereinten Nationen: Es gebe keine Beweise für die Tötung russischer Kriegsgefangener. Die Ukraine verletzte die Rechte der Gefangenen nicht und halte sich an internationale Abkommen, teilte er im Nachrichtenkanal Telegram mit. Bogner und ihre Kollegen hätten die Vorwürfe bei Treffen mit ihm nie angesprochen. Zugleich wies Lubinez auf eine Vielzahl russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine hin.

Laut Uno-Vertreterin Bogner sind für ihren Bericht mehr als 400 Kriegsgefangene interviewt worden. Es seien zwar Gefangene von beiden Seiten befragt worden, doch gebe Russland den Vereinten Nationen keinen Zugang zu ukrainischen Kriegsgefangenen. Von etwas über 200 interviewten ehemaligen Gefangenen Russlands habe die Mehrzahl von Misshandlungen vor ihrer Internierung berichtet. Die Haftbedingungen seien zudem auf russischer Seite sehr schlecht. Mindestens fünf Kriegsgefangene seien jeweils wegen unzureichender medizinischer Behandlung oder an den Misshandlungen gestorben.

Russische Angriffe töten Zivilisten

In der Ukraine sind unterdessen innerhalb eines einzigen Tages mindestens neun Zivilisten bei russischen Angriffen getötet worden. Weitere 26 seien verletzt worden, teilte der Pressedienst des ukrainischen Militärs mit. Betroffen von Angriffen waren demnach acht Gebiete des Landes, dabei insbesondere das östliche Donezker Gebiet. Behördenangaben zufolge wurden dort allein bei einem Angriff auf ein Obdachlosenheim in der Stadt Kostjantyniwka drei Menschen getötet und zwei weitere verletzt.

Die Vereinten Nationen haben in dem inzwischen mehr als 13 Monate andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr als 8300 getötete Zivilisten registriert. Die Organisation geht aber aufgrund des fehlenden Zugangs zu den russisch besetzten Gebieten von weitaus höheren Opferzahlen aus.

Von den Todesfällen bei Zivilisten seien »mehr als 90 Prozent durch Raketen, Sprengstoffwaffen, Minen und explosive Rückstände verursacht worden«, sagte Uno-Vertreterin Bogner. In den von Russland besetzten Gebieten seien Hinrichtungen von Zivilisten und willkürliche Festnahmen dokumentiert worden. Mindestens 621 Menschen seien entweder verschwunden oder gewaltsam von den russischen Besatzern festgenommen worden. Die Freigelassenen berichteten zu 90 Prozent von Folter und Misshandlungen.

Ex-Kremlchef Medwedew liest Stalin-Telegramm vor

Russlands Ex-Präsident Dmitrij Medwedew griff unterdessen zu einer aufsehenerregenden Maßnahme, um die heimische Waffenproduktion zu steigern: Vor Vertretern einer nationalen Rüstungskommission zitierte der 57-Jährige den Sowjetdiktator Josef Stalin (1879-1953), wie aus einem von mehreren Videos hervorgeht, die Medwedew selbst in sozialen Netzwerken veröffentlichte. Medwedew gilt als glühender Verfechter des brutalen russischen Angriffskriegs auf das Nachbarland.

In dem Video ist zu hören, wie er – am Kopfende eines langen Tisches sitzend – aus einem Telegramm Stalins aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs vorliest, in dem dieser eine Fabrik in der Stadt Tscheljabinsk zur pünktlichen Produktion von Panzerteilen aufruft. »Sollte sich in ein paar Tagen herausstellen, dass Sie Ihre Pflicht gegenüber dem Vaterland verletzen, so werde ich damit beginnen, Sie wie Verbrecher zu zerschlagen«, heißt es in dem Schreiben aus dem Jahr 1941. Anschließend sagt Medwedew, der mittlerweile Vizechef des russischen Sicherheitsrats ist, in die Runde: »Kollegen, ich will, dass Sie mir zuhören und sich an die Worte des Generalissimus erinnern.«

Selenskyj soll Karlspreis am 14. Mai erhalten

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll am 14. Mai den Karlspreis überreicht bekommen. »Wir arbeiten auf diesen Termin hin«, sagte eine Sprecherin der Stadt Aachen. Ob es wirklich dabei bleibe, hänge von der weiteren Entwicklung in der Ukraine ab. Traditionell findet die Karlspreis-Verleihung eigentlich am Feiertag Christi Himmelfahrt (18. Mai) statt, dies sei aber wegen Terminkollisionen nicht möglich. Ob Selenskyj persönlich komme oder per Video zugeschaltet werde, werde sich möglicherweise erst sehr kurzfristig entscheiden, sagte die Sprecherin. Zuvor hatte die »Aachener Zeitung« berichtet.

Selenskyj und das ukrainische Volk erhalten den Karlspreis 2023 für ihre Verdienste um Europa. In der Begründung des Karlspreisdirektoriums hieß es, dass das ukrainische Volk unter Selenskyjs Führung nicht nur die Souveränität seines Landes und das Leben seiner Bürger verteidige, »sondern auch Europa und die europäischen Werte«. Mit der Verleihung werde unterstrichen, dass die Ukraine Teil Europas sei.

Russland wirft Slowakei Vertragsbruch vor

Russland hat der Slowakei wegen der Übergabe von aus Sowjetzeiten stammenden Kampfflugzeugen vom Typ MiG-29 an die Ukraine Vertragsbruch vorgeworfen. Es sei laut einem 1997 geschlossenen Vertrag nicht zulässig, die Maschinen ohne Zustimmung Russlands einem anderen Staat zu überlassen, teilte der Föderale Dienst für die militärtechnische Zusammenarbeit mit. Auf der Seite des russischen Außenministeriums war zudem der Vertrag einsehbar. Moskau sprach von einem »unfreundlichen Akt« und einem Verstoß gegen die internationalen Pflichten der Slowakei.

Die slowakische Politik hat bisher nicht öffentlich reagiert auf die russischen Vorwürfe, die zuvor auch Moskaus Botschaft in Bratislava geäußert hatte. Die Slowakei hatte am Donnerstag vier Flugzeuge an die Ukraine übergeben. Weitere neun sollen folgen.

Neues Munitionspaket für die Ukraine

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union stimmten derweil bei ihrem Gipfel in Brüssel einem neuen umfangreichen Munitionspaket an die Ukraine zu, das die Außen- und Verteidigungsminister am Montag ausgehandelt hatten. Ziel sei es, »innerhalb der nächsten zwölf Monate in einer gemeinsamen Anstrengung eine Million Schuss Artilleriemunition bereitzustellen«, hieß es in einer Erklärung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich zu Beginn des Gipfels bereit erklärt, »die Ukraine so lange zu unterstützen, wie das tatsächlich notwendig sein wird«.

USA schließen Verhandlungen über ukrainische Grenzen nicht aus

US-Außenminister Antony Blinken hat langfristig Verhandlungen über die künftigen Grenzen der Ukraine nicht ausgeschlossen. Vor einem Parlamentsausschuss in Washington sagte er, die Definition der territorialen Integrität liege immer bei den Ukrainern und müsse gewahrt bleiben. Doch glaube er, »dass es Gebiete in der Ukraine gibt, bei denen die Ukrainer entschlossen sind, am Boden darum zu kämpfen. Und eventuell gibt es Gebiete, bei denen sie beschließen, dass sie versuchen wollen, sie auf anderen Wegen wiederzuerlangen.«

Beobachtern zufolge ließ der US-Chefdiplomat damit durchblicken, dass Washington eine Rückeroberung aller von Russland besetzten ukrainischen Gebiete – vor allem der Krimhalbinsel – durch Kiews Truppen für unwahrscheinlich hält.

wal/dpa/Reuters/AFP