Bundesbankpräsident Joachim Nagel warnt im Gespräch mit der WirtschaftsWoche vor einem länger anhaltenden Preisdruck in der Eurozone. Risiken sieht Nagel neben den Ölpreisen vor allem in der Lohnentwicklung. „Wenn die Löhne kräftiger steigen als erwartet, könnte der Preisdruck länger anhalten, vor allem bei Dienstleistungen“, erklärte Nagel. „Es ist also noch nicht völlig klar, ob die Inflationsrate im nächsten Jahr wieder beim Zielwert von zwei Prozent landen wird und dann auf diesem Niveau bleibt“, so der Bundesbankchef.
Die jüngsten Daten aus den USA erinnerten daran, „dass die Rückkehr der Inflation zum Zielwert kein Selbstläufer ist“, erklärte Nagel. Daher sei es richtig, dass sich der EZB-Rat mit Blick auf eine Zinssenkung im Juni nicht festgelegt habe. Zwar sei eine Leitzinssenkung der EZB im Juni wahrscheinlicher geworden. Doch werde die EZB in den nächsten Wochen zunächst die eingehenden Daten genauer analysieren und dann entscheiden. „Wenn sich die Preise und die Wirtschaft entwickeln wie erwartet, würde ich eine Senkung der Leitzinsen im Juni befürworten“, so Nagel.
Vor dem Hintergrund der zuletzt gestiegenen Unsicherheit, ob und wann die US-Notenbank Fed ihren Leitzins senkt, sagte er: „Es ist klar, dass von den USA immer Rückkoppelungseffekte auf den Euroraum ausgehen. Und die berücksichtigen wir dann natürlich. Der Wechselkurs ist dabei allerdings nur einer von vielen Einflüssen auf die Inflation.“
Mit Blick auf die Finanzpolitik sagte Nagel, die Bundesbank trete für eine verlässliche und bindende Schuldenbremse ein. „Die Schuldenbremse ist kein Hemmschuh für öffentliche Investitionen“, so Nagel. Es sei wichtig, dass Deutschland ein Stabilitätsanker in Europa bleibt.
Allerdings könne sich die Bundesbank eine stabilitätsorientierte Reform der Schuldenbremse vorstellen. „Wenn Deutschlands Staatsschulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung unter 60 Prozent fallen, wird ein wichtiges europäisches Stabilitätskriterium erfüllt. Dann könnte dem Staat eine größere Nettokreditaufnahme ermöglicht werden als bisher, etwa eine Defizitquote in einer Größenordnung von ein bis anderthalb Prozent“, sagte Nagel. Der zusätzliche Spielraum könnte für Investitionen reserviert werden, „um Wachstumskräfte zu stärken und Standortbedingungen zu verbessern“, so Nagel.
Der Chef der Bundesbank geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaft im Laufe dieses Jahres wieder Fahrt aufnimmt. „Die jüngsten Produktionszahlen legen nahe, dass das erste Quartal 2024 schon etwas besser ausgefallen ist als erwartet“, sagte Nagel. Für 2024 erwarte er „insgesamt ein leichtes Wachstum“. Deutschland sei nicht der kranke Mann Europas, erklärte Nagel. Allerdings leide das Land unter strukturellen Wachstumshindernissen. Dazu zählten die „ausufernde Bürokratie und die hohen Steuern“. Die Bundesregierung habe die Probleme erkannt. „Wichtig ist, dass hier zeitnah Lösungen gefunden werden“, so Nagel.
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