KI in der Medizin Wenn der Algorithmus eine seltene Erkrankung diagnostiziert

Die Kardiologen der Universitätsmedizin Essen können unterschiedliche Daten mit künstlicher Intelligenz auswerten, Erkrankungen schneller erkennen – und per so genanntem 3D-Mapping Herzhöhlen automatisch vermessen und eine eingeschränkte Funktion der Herzkammern erkennen. Quelle: PR

Schnellere Diagnosen, bessere Prävention: Das verspricht sich die Medizinbranche von künstlicher Intelligenz. Wo Ärzte sie tatsächlich schon nutzen – und welche Unternehmen dahinterstecken.

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Dr. House, der geniale Arzt in der gleichnamigen Fernsehserie, kommt jeder noch so seltenen Krankheit auf die Schliche – indem er für andere verborgene Hinweise und Symptome kombiniert. Ähnliches will das Start-up Saventic Health leisten – mit künstlicher Intelligenz. 

Das junge Unternehmen aus Warschau hat sich auf die Diagnose seltener Erkrankungen spezialisiert. In Europa sind das Krankheiten, die höchstens eine unter 2000 Personen betreffen. „Vier Millionen Menschen in Deutschland haben eine seltene Erkrankung“, sagt Maciek Klein, General Manager bei Saventic Health für Deutschland. „Aber die Diagnose ist sehr kompliziert. Oft laufen Patienten jahrelang von Arzt zu Arzt.“

Die KI-Algorithmen von Saventic Health sollen helfen, den Ursachen der Symptome viel schneller auf den Grund zu kommen und Patienten rascher eine Behandlung zu ermöglichen oder sie für klinische Studien zu qualifizieren – für viele der seltenen Leiden werden Therapien gerade erst entwickelt. Dazu füttern die Gründer ihre Computer mit riesigen Datenmengen – Arztnotizen, Laborergebnisse, radiologische Untersuchungsergebnisse – und lassen maßgeschneiderte KIs nach Zusammenhängen suchen. „Wir haben Algorithmen entwickelt, mit denen wir aktuell 50 seltene Erkrankungen aufspüren können“, sagt Klein.

An der Uniklinik Leipzig ist die KI seit vergangenem Herbst im Einsatz, um Hinweise auf eine sehr seltene Herzerkrankung zu finden. Die Software wertet die Daten von tausenden Patienten anonymisiert aus – und gibt am Ende eine Liste mit jenen anonymen Personen aus, bei denen das Risiko für die seltene Herzkrankheit besonders hoch ist. Die Ärzte können dann herausfinden, welche konkreten Patienten hinter den Datensätzen stehen – und entscheiden, ob sie Untersuchungen auf das Herzleiden empfehlen wollen.

Milliarden von Dollar für medizinische KI

Mit ihrem Diagnose-Tool finden die Gründer aus Warschau immer mehr Aufmerksamkeit – und sind nun etwa auf der Medizinkonferenz DMEA in Berlin in einem Start-up-Wettbewerb nominiert. Die Konferenz, die seit diesem Dienstag läuft, nennt sich das größte Event für digitale Medizin in Europa. Ganz vorne bei den Trendthemen dieses Jahr: künstliche Intelligenz.

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Denn die Technik ist besonders gut darin, in großen Datenmengen Strukturen zu finden – und kann so Zusammenhänge erkennen, die Menschen mitunter verborgen bleiben. So soll KI helfen, Moleküle für neue Medikamente zu entdecken, auf Röntgenbildern etwa Knochenbrüche zu erkennen oder maßgeschneiderte Therapien für einzelne Patienten zu entwickeln.

Darum haben Techkonzerne wie Microsoft und Google und Wagniskapitalgeber das Thema längst ganz genau im Blick: Im Jahr 2021 flossen 13,4 Milliarden Dollar in KI-Start-ups in der Medizinbranche, berichten die Marktforscher von Pitchbook. Seitdem ist der Hype zwar abgeflaut – in den ersten drei Quartalen 2023 sammelten die Gründer nur noch drei Milliarden Dollar Wagniskapital. Doch dafür dürfte auch der Boom der großen Sprachmodelle wie GPT-4 ein Grund sein, der viele Investoren anzog.

Während die Macher von ChatGPT und Co. noch nach Geschäftsmodellen für ihre Chatbots suchen, ist KI in der Medizin an vielen Stellen schon im kommerziellen Einsatz – in vielen tausenden Arztpraxen und Krankenhäusern weltweit.

Spracherkennung: Mehr Zeit für die Patienten

15 Minuten sind nicht gerade viel Zeit für ein wichtiges Gespräch. Und doch seien Arztbesuche, zumindest in den USA, im Schnitt eben 15 Minuten lang, sagt Peter Durlach, Chief Strategy Officer Health & Life Sciences bei Microsoft. „Und danach verbringen Ärzte oft noch einmal genauso viel Zeit mit der Dokumentation des Gesprächs und der Behandlung“, sagt Durlach.

Der Papierkram raubt Ärztinnen und Ärzten Zeit, das zeigen auch aktuelle Umfragen. Laut dem Bürokratieindex der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wendet das Team einer durchschnittlichen Arztpraxis in Deutschland allein 61 Arbeitstage für Bürokratieaufgaben auf, rund 55,8 Millionen Arbeitsstunden machen das insgesamt.

Microsoft will Ärzten einen Teil der Schreibarbeit abnehmen – mit Hilfe von Spracherkennung, auch Natural language processing genannt. Die Dragon-Software der Microsoft-Tochter Nuance, installiert auf dem Computer oder dem Handy, hört bei Behandlungsgesprächen im Arztzimmer mit und schreibt automatisch ein Protokoll. „Ärzte können mehr Zeit mit den Patienten verbringen und weniger mit dem Schreiben von Notizen“, sagt Durlach.

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Die künstliche Intelligenz ist heute so weit entwickelt, dass die Nutzer nicht erst Stimmproben abgeben und die Software trainieren müssen, sondern gleich mit dem Diktat beginnen können. Auch medizinische Fachbegriffe soll die KI mit hoher Treffgenauigkeit erkennen. Aus dem rohen Transkript erzeugt eine generative KI im nächsten Schritt ein strukturiertes Protokoll, in dem auch Umgangssprache in einen medizinischen Jargon verwandelt wird. „Wir reduzieren die Zeit, die Ärzte mit Dokumentation verbringen, um 50 Prozent“, sagt Durlach.

Laut Microsoft werden 300 Millionen Akten von Patientinnen und Patienten werden jährlich mit Hilfe der Software des Unternehmens erstellt. Weltweit sollen eine Million Ärzte das System einsetzen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz nutzt mehr als jedes zweite Krankenhaus die KI von Nuance. „Spracherkennung ist mit Abstand das erfolgreichste KI-Produkt im Gesundheitssektor“, sagt Durlach.

KI-Diagnose: Präziser Krankheiten erkennen

Ob jemand wütend ist, kann man ihm schnell am Gesicht ablesen; an der Universitätsmedizin Essen erkennen die Mediziner aber noch etwas ganz anderes – nämlich ob ein Patient auf dem Weg ist, eine Herzerkrankung zu entwickeln oder zu verschlechtern. Dazu setzen die Ärzte eine KI ein, die kleinste Veränderungen etwa in der Mimik eines Gesichts identifiziert, um zu erkennen, ob diese mit Herzproblemen in Zusammenhang stehen. Auch EKG-Werte und andere Untersuchungsdaten werten die Kardiologen in Essen mit künstlicher Intelligenz aus.

„Mit KI können unsere Kardiologen Hinweise erhalten, ob sich eine Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen oder Herzinfarkte anbahnt“, sagt Jochen Werner, Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen. „Das ist für mich ein riesiger Fortschritt.“ Die Ärzte könnten dadurch jetzt rechtzeitig einschreiten und den Patienten präventive Therapien, etwa entsprechende Medikamente, verschreiben, oder genauere Untersuchungen durchführen, etwa mit dem Computertomographen, um das Herzproblem genauer zu diagnostizieren.

Nicht nur im Gesicht oder in medizinischen Messdaten erkennen Algorithmen mitunter mehr als Ärzte – sondern auch bei der Früherkennung, etwa einer Darmspiegelung. „Unsere Ärzte setzen eine KI ein, die in Echtzeit auch ganz kleine Polypen im Darm erkennt, die mit dem bloßen Auge bei der Endoskopie nicht oder kaum zu sehen sind“, sagt Werner.

Ein anderes KI-System diagnostiziert in Essen auf Röntgenbildern Knochenbrüche. Das könnten Radiologen natürlich auch hervorragend, sagt Werner. „Aber wenn ein Patient mit zahlreichen Brüchen eingeliefert wird, geht es um eine schnelle umfassende Diagnose.“ Da könne die KI helfen, Zeit zu sparen.

Die Radiologen an der Uniklinik Essen sind die Arbeit mit KI schon lange gewohnt. Algorithmen helfen, Tumore zu erkennen oder etwa das Knochenalter von Patienten anhand von Bildern der Handwurzel zu bestimmen, was für bestimmte Therapieentscheidungen hilfreich ist. 

„Vor gar nicht langer Zeit haben unsere Ärzte dicke Bücher dafür gewälzt“, sagt Klinikchef Werner. „Das war eine mühevolle und ermüdende Arbeit.“ Nun hat die KI sie übernommen. „Unsere Radiologen haben so wieder mehr Zeit für andere Tätigkeiten“, sagt Werner. Es gehe beim Einsatz von KI auch darum, die Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, zu entlasten.

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Der Klinikvorstand ist überzeugt: „Künstliche Intelligenz wird die Diagnostik in gigantischem Ausmaß verbessern.“ Dafür sorgt auch ein bereits 2018 gegründetes eigenes „Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin“ an der Universitätsmedizin Essen, in dem fünf Professoren und mehr als 150 Mitarbeiter an neuen KI-Systemen arbeiten.

Wirkstoffsuche: Heilenden Molekülen auf der Spur

KI-Start-ups können sich vor Anfragen aus der Pharmabranche gerade kaum retten. Die Neugründung Recursion hat mit dem Konzern Roche eine Partnerschaft geschlossen, Exscientia aus Großbritannien mit Sanofi, Benevolent AI mit Merck aus Darmstadt. Das britische Start-up Instadeep wurde vergangenes Jahr komplett übernommen – vom Coronaimpfstoffentwickler Biontech aus Mainz.

Die Hoffnung der Pharmaunternehmen: Künstliche Intelligenz könnte die Suche nach neuen Wirkstoffen erheblich beschleunigen. So hat die KI Alphafold der Alphabet-Tochter Deepmind die räumliche Struktur von mehr als 200 Millionen Proteinen berechnet – eine Leistung, die mit herkömmlicher Forschung tausende Jahre gedauert hätte. Kennt man die Form eines Moleküls, lässt sich auch seine Funktion verstehen und einsetzen – etwa, um gezielt an bestimmten Zellen im Körper anzudocken.

„Mit Hilfe von KI können wir unter Millionen von Molekül-Kombinationen einen geeigneten Wirkstoffkandidaten finden“, sagt Johannes Winter, Chief Strategy Officer am Forschungszentrum L3S an der Leibniz Universität Hannover. L3S ist Mitinitiator eines neuen Forschungszentrums für künstliche Intelligenz in der Medizin, das sich unter anderem mit der besseren Entwicklung neuer Wirkstoffe mit Hilfe von KI beschäftigen soll.

„Ein neues Antibiotikum zu entwickeln, kostet eine bis zwei Milliarden Euro“, sagt Winter. Wenn das neue Präparat dann in Studien nicht wirkt, muss ein Pharmakonzern sehr viel Geld abschreiben. Mit KI, sagt Winter, ließen sich schneller bessere Wirkstoffkandidaten finden. „Das macht die Entwicklung neuer Medikamente wieder attraktiver.“  Einige Wirkstoffe, die Start-ups mit Hilfe von KI entwickelt haben, sind schon in klinischen Studien. 

L3S-Strategiechef Winter denkt noch einen Schritt weiter: „In Zukunft lässt sich mit KI ein auf Sie persönlich zugeschnittenes Präparat entwickeln“, sagt der Experte. „Es gibt ein immenses Potenzial für eine personalisierte Medizin.“

Wer entscheidet, welcher Patient eine Therapie bekommt?

Doch die Technologie birgt auch Risiken und Dilemmata. „Wenn wir feststellen, dass KI-Systeme nicht unseren ethischen Grundprinzipien gehorchen, haben wir ein Problem“, sagt L3S-Strategiechef Winter. „Die Frage ist: Gelingt es uns, ein ethisches und rechtliches Rahmenwerk für den Einsatz von KI in der Medizin zu schaffen, ohne Innovationen dabei abzuwürgen?“ Auch Klinikvorstand Werner sagt: „Wir müssen ethische Fragen immer mit bedenken – gerade wenn es um Entscheidungen geht, wer welche Therapie bekommt.“

Der deutsche Ethikrat warnt obendrein in einer Stellungnahme zu KI, Ärztinnen und Ärzte könnten Kompetenzen schleichend verlieren, wenn sie bestimmte Aufgaben immer öfter an eine KI delegierten. „Zum anderen könnten sie gerade aufgrund des verlorengegangenen eigenen Erfahrungswissens dazu neigen, ihre Sorgfaltspflichten im Umgang mit derartigen Instrumenten dadurch zu verletzen, dass sie deren Empfehlungen blind folgen.“

Maciek Klein vom Start-up Saventic Health sagt, die KI-Technologie habe nicht das Ziel, Ärzte zu ersetzen. „Wir schaffen ein zusätzliches Werkzeug, das Ärzte benutzen können.“ Die finale Entscheidung etwa über den Ablauf der Diagnostik liege immer beim Arzt. Mit ihrer KI wollen die Gründer den Prozess aber beschleunigen, inzwischen sind sie international präsent, etwa in Kanada und Brasilien.

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Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 9. April 2024 bei der WirtschaftsWoche. Wir zeigen ihn aufgrund des hohen Leserinteresses erneut.

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