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Ärger aus Brüssel droht: Was Wissing tun kann, um Deutschland vor einer Milliardenstrafe zu bewahren
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  • FOCUS-online-Redakteurin
Samstag, 27.04.2024, 21:53

Die Fahrverbote sind vom Tisch – und die Sektorziele im Klimaschutzgesetz auch. Dennoch muss Verkehrminister Volker Wissing anfangen, sich an die Klimaziele auszurichten, mahnen Experten. Sonst drohen Deutschland milliardenhohe Strafzahlungen an die EU. Allerdings: Die Instrumente dafür sind bekannt.

In der Ampel ist das alte Klimaschutzgesetz (KSG) - wie auch die angedrohten Fahrverbote von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) - weg vom Tisch. Am Freitag wurde die Novelle des Gesetzes im Bundestag verabschiedet. Damit wurden auch die nationalen Sektorziele im Klimaschutzgesetz verabschiedet. Die einzelnen Ministerien haben nun keine Ziele mehr, die sie erfüllen müssen, und sind auch nicht mehr zur Vorlage sogenannter Sofortprogramme verpflichtet.

Das ist praktisch vor allem für das Verkehrsministerium: Das hat im letzten Jahr zum dritten Mal in Folge die gesetzten Klimaziele verfehlt - ein ausreichendes Sofortprogramm, um die Lücke zu schließen, hat es aber nie vorgelegt. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hatte die Klimapolitik der Ampel deswegen sogar als rechtswidrig verurteilt, die Bundesregierung ging in Revision.

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„Das wird eine finanzielle Belastung“

Doch mit dem Ende der Sektorziele ist die Arbeit für Wissing noch nicht erledigt. Denn auch wenn es auf nationaler Ebene keine verbindlichen Sektorziele mehr gibt - auf EU-Ebene existieren sie weiterhin. Und dorthin, nach Brüssel, muss Deutschland Milliardenstrafen überweisen, falls die Ziele nicht erreicht werden.

Denn im Rahmen des europäischen „Fit for 55“-Paket müssen die Gesamtemissionen des Verkehrs- und Gebäudesektors bis 2030 um 43 Prozent gegenüber 2005 sinken. Der Verkehr gehört zu den Sektoren, die unter die „Effort-Sharing-Regulation“ fallen. „Wenn die Emissionen im Verkehr in Deutschland nicht schnell genug sinken, muss Deutschland CO2-Zertifikate von anderen Ländern kaufen, die beim Klimaschutz besser sind", erklärt Dr. Patrick Plötz. Er leitet das Geschäftsfeld Energiewirtschaft am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung.

„Das wird eine finanzielle Belastung für den deutschen Haushalt“, sagt Plötz. Wie hoch die Strafzahlungen sein werden, könne man zwar schätzen, aber nicht genau berechnen. Bis 2030 müsse Deutschland wohl einen zweistelligen Milliardenbetrag an andere EU-Länder zahlen, so Pötz. 

Schock an der Tankstelle droht

Laut dem aktuellen Projektionsbericht des Umweltbundesamtes verfehlt Deutschland mit den bisherigen Instrumenten die EU-Klimaziele der „Effort Sharing Regulation" bis 2030 um 126 Millionen Tonnen CO2. Peter Kasten, Leiter des Bereichs Nachhaltige Mobilität am Öko-Institut, rechnet vor, dass Deutschland bei einem Preis von 100 Euro pro Tonne zwischen 10 und 20 Milliarden Euro an Strafzahlungen in Zukunft leisten müsste. 

Darüber hinaus wird der mangelnde Klimaschutz im Verkehrssektor nicht nur für den Bundeshaushalt teuer, sondern ab 2027 auch für die Bürgerinnen und Bürger ein enormer Schock: Denn in drei Jahren wird der CO2-Preis für den Verkehrssektor nicht mehr durch nationale Vorgaben (derzeit 45 Euro pro Tonne), sondern durch den europäischen Emissionshandel (ETS 2) bestimmt. Der CO2-Preis setzt sich dann aus den auf dem EU-Markt verfügbaren Zertifikaten zusammen. Diese Zertifikate werden dann durch die Reduktionsziele begrenzt und treiben den CO2-Preis nach oben. 

Wie hoch der CO2-Preis im Verkehrssektor in Deutschland ab 2027 sein wird, ist nach Ansicht einiger Expertinnen und Experten noch unklar, da der nationale CO2-Preis in Deutschland mit dem ETS 2 verknüpft werden muss. Wie hoch der CO2-Preis steigen wird, sei schwer abzuschätzen, da der ETS-2 noch nicht in Kraft sei. Sicher ist nur: Der derzeitige Preis von 45 Euro pro Tonne wird nicht ausreichen. Die Denkfabrik Agora Energiewende hält Preise von bis zu 200 Euro pro Tonne für möglich .

Spätestens an der Tankstelle werden die Bürger den höheren CO2-Preis zu spüren bekommen. „Wenn sich der Preis ab 2027 aber nicht mehr dadurch bildet, dass der Gesetzgeber ihn festlegt, kann es ganz heftige Preiseffekte geben", sagte die Umweltrechtlerin Miriam Vollmer dem Nachrichtenportal T-Online . „Die Zertifikate werden dann jedes Jahr weniger. Das wird dann für viele ein Schock an der Tankstelle.“ Berechnungen von Agora Energiewende gehen von Preissprüngen von bis zu 38 Cent pro Liter aus. 

Was Wissing tun kann, um Deutschlands Verkehr klimafreundlich zu machen

Die Zahlen unterstreichen, dass die Verkehrswende in Deutschland bereits eine gewisse Dringlichkeit besitzt. Es braucht aber auch keine sofortigen Fahrverbote, um die Emissionen im Verkehrssektor zu senken, wie sie Volker Wissing mit politischem Kalkül angedroht hat. Sein eigener Expertenbeirat „Klimaschutz in der Mobilität“ hat Wissing bereits politische Instrumente aufgezeigt. Mit ihnen könnte der Verkehrsminister den Klimaschutz bis 2030 deutlich voranbringen, und sie würden auch auf Akzeptanz stoßen, sagt der Verkehrsforscher Felix Creutzig, der ebenfalls Mitglied in Wissings Expertenrat ist.

  • CO2-Abgabe bei Verbrenner-Kauf: Am wichtigsten sei es, so der Verkehrswissenschaftler, beim Neukauf von Verbrennern eine CO2-Abgabe im Rahmen der Kfz-Steuer zu erheben. Mit diesen Einnahmen könnte der Staat dann den Kauf von Elektroautos subventionieren. Der Expertenrat schätzt, dass mit diesem marktwirtschaftlichen Instrument kumuliert bis 2030 zwischen 1,7 und 2,5 Millionen neue E-Autos gekauft werden könnten, die die Emissionen im Verkehrssektor nachweislich senken würden. 

  • Tempolimit: „Auch das Tempolimit würde sofort Emissionen einsparen, je nach Ausgestaltung in der Größenordnung von zwei bis sieben Millionen Tonnen CO2 pro Jahr“, erklärt Creutzig gegenüber FOCUS online Earth. Der Vorteil des Tempolimits: Die Umsetzung würde kaum Geld kosten, zu weniger Unfällen auf den Straßen führen und sei (trotz anfänglichem Gegenwind) auch in anderen EU-Ländern angenommen worden - und bei den Menschen immer beliebter. „Das Tempolimit wird von einer Mehrheit der Bevölkerung befürwortet. Klimaschutz ist auch mit akzeptablen Maßnahmen möglich“, betont auch Creutzig. 

  • Ende des Dienstwagenprivilegs: Die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs sei nicht nur wirksam für den Klimaschutz, sondern auch sozial gerechter, sagt Creutzig. Denn meist fahren Menschen mit höherem Einkommen einen Dienstwagen.

    Eine höhere steuerliche Belastung von Dienstwagen mit Verbrennungsmotor könne dazu führen, dass bis 2030 zwischen 230.000 bis 480.000 neue Elektroautos als Dienstwagen zugelassen würden. Mit der Abschaffung des bisherigen Dienstwagenprivilegs und der klimafreundlichen Umgestaltung könnte der Staat zwischen 6,3 und 11,3 Milliarden Euro mehr an Einkommensteuer von denjenigen einnehmen, die einen Verbrenner als Dienstwagen fahren.

    Stefan Gössling, Verkehrs-Professor an der Universität Linnaeus in Schweden, schätzt, dass mit dem Abbau des Dienstwagenprivilegs etwa 7,5 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland eingespart werden könnten, da die deutschen Haushalte mit Dienstwagen rund 25 Prozent mehr Autos als der Durchschnitt besitzen. Bislang lehnt die FDP die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs ab. Selbst Mitglieder des eigenen Expertenrats des Verkehrsministeriums sind gegen diese Maßnahme, namentlich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Verband der Automobilindustrie (VDA). 

  • Stärkung der Schiene und des Öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV): Neben der Elektrifizierung sei auch die Verlagerung auf klimafreundliche Verkehrsträger wie den ÖPNV und die Schiene essenziell. Zu diesem Ergebnis kommt das Öko-Institut in einer neuen Studie mit dem Schweizer Forschungsinstitut Infras. 

    Neben der Anpassung des Steuersystems beim Auto-Neukauf und einer höheren CO2-Bepreisung seien auch höhere Investitionen in klimafreundliche Verkehrsträger notwendig. „Wenn Investitionen in den Verkehr und das Steuersystem für den Verkehrssektor klimafreundlich ausgerichtet werden, kann eine Trendwende mit deutlichen Emissionsminderungen von heute über 145 auf 80 bis 85 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente im Jahr 2030 erfolgen“, heißt es in der Studie. 

“Forschung und Wissenschaft werden nicht wirklich berücksichtigt"

Ein überraschendes Ergebnis der Studie: Wenn die Verkehrspolitik ambitionierten Klimaschutz betreibt, profitiert auch die Wirtschaft. Die volkswirtschaftliche Analyse beider untersuchten Szenarien ergab für Deutschland positive Effekte bei Wertschöpfung und Beschäftigung.

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Sollte das Verkehrsministerium so weitermachen wie bisher, würde der Bundeshaushalt im Verkehrssektor langfristig mehr ausgeben als er einnimmt, so die Analyse. Dafür sind schnellere und höhere Investitionen in die Infrastruktur (Energie und Verkehr) und in das ÖPNV-Angebot notwendig, die aber per Saldo positiv ausfallen.

Wie seine Vorgänger kann also auch Verkehrsminister Wissing auf die Instrumente zurückgreifen, die ihm sein Sachverständigenrat vorschlägt. Dass dies bisher nicht geschehen ist, wundert Stefan Gössling nicht. „Forschung und Wissenschaft werden in der deutschen Verkehrspolitik nicht wirklich berücksichtigt“, sagt Gössling. Verkehrspolitik sei in den vergangenen Jahrzehnten immer Automobilpolitik gewesen.

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