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Jens Radü

Die Lage am Abend Teenies beim Kant-zler

Die drei Fragezeichen heute:

  1. Zukunftstag – wie hat Olaf Scholz den Girls’ and Boys’ Day verbracht?

  2. Steuererklärung – warum zahlen wir in Deutschland so viel – und andere so wenig?

  3. Angst – macht die Furcht uns dumm?

Podcast Cover

1. Das Kanzler-Maskottchen

Na, hatten Sie heute bei der Arbeit auch ein paar Teenager neben sich sitzen? Es war Girls’ and Boys’ Day im ganzen Land, die Idee: Berufe kennenlernen, staunen, Fragen stellen (»Wie ist denn hier das WLAN-Passwort?«).

Olaf Scholz hatte heute niemanden zu Gast. Er habe das schon vor zwei Tagen erledigt, erklärt der freundliche Herr vom Bundespresseamt am Telefon, »gucken Sie mal auf TikTok«. Ein wenig hört man den Stolz raus, yes, wir sind jetzt auch auf TikTok. Wie Joe Biden. Und, na ja, Markus Söder. Auf dem TikTok-Video kann man dann sehen, was Scholz beim vorgezogenen Girls’ Day mit den 24 Schülerinnen unternommen hat: einem Roboter zugewinkt (KI, klar), zum Beispiel. Über Rasen gestreichelt. 1.07 Minuten gute Laune.

Neulich war auch der Influencer Younes Zarou da (»Wir haben coole Videos für euch gedreht«), und während Zarou spricht, steht Scholz einfach da und, tja, guckt. Olaf, das Kanzler-Maskottchen. »Von den Politikern verlangt der Fernsehauftritt zudem vor allem darstellerische Qualitäten, die in keinem notwendigen Zusammenhang zu politischen Leistungen stehen, aber über den politischen Erfolg entscheiden«, schreibt der Politikwissenschaftler Thomas Meyer über das große Polit-Theater.

Sichtlich wohler fühlt sich Scholz, wenn es nicht um TikTok, sondern um Bücher geht. Er ist »der Bücherwurm unter den Bundeskanzlern«, so mein Kollege Christian Esch. Was er so liest? »Da wechseln sich die Phasen ab. Mal sind es Romane, dann mehr Sachbücher, manchmal lese ich auch Comics«, hat Scholz der »Süddeutschen Zeitung«  verraten. Immanuel Kant ist in seinem Kanzler-Kanon jedenfalls auch dabei: Bei einer Festrede hat Scholz nun den Philosophen, der vor 300 Jahren in Königsberg geboren wurde, verteidigt – gegen Putin. Der Kremlchef hatte Kant als seinen »Lieblingsphilosophen« bezeichnet. Genau, der Kant, der »Zum Ewigen Frieden« geschrieben hat: Vernunft, Moral, Völkerrecht. Passt so gar nicht zum neoimperialen Angriffskrieg Putins, sagt Scholz. Absolut. Aber: »Man wünschte sich, Olaf Scholz würde mit derselben Verve die Ukraine vor Putin verteidigen, mit der er Kant vor ihm in Schutz nimmt«, schreibt Christian.

2. Steuer herumreißen?

Wer die wahre Schönheit der deutschen Sprache entdecken will, muss nicht einmal den Kanzler-Literaturkanon (siehe oben) bemühen. Es reicht ein Blick in die Steuererklärung. Da werden wir alle zu Poeten: Der »Rechtsbehelf« reiht sich im beschwingten Daktylus an die »Anfechtung des Grundlagenbescheids« und alles gipfelt im Showdown des »Härteausgleichsbetrags«. Bäm. Über einen Mangel an Komplexität des deutschen Steuersystems wird sich wohl niemand beschweren. Über einen Mangel an Gerechtigkeit allerdings schon: »Die Gesamtbelastung von 47,9 Prozent für Alleinstehende ohne Kinder wird nur noch von Belgien übertroffen«, schreibt mein Kollege David Böcking .

Er hat die neuesten Daten der OECD analysiert, die heute veröffentlicht wurden. Der Befund: Arbeit in Deutschland ist teuer. Dabei ist es gar nicht mal die Einkommensteuer, die den Lohn auffrisst. Sondern vor allem die Beiträge zur Kranken-, Renten, Pflege- oder Arbeitslosenversicherung: Im OECD-Durchschnitt zahlt ein alleinstehender Arbeitnehmer ohne Kinder ein Viertel seines Bruttogehalts für Steuern und Abgaben. Und in Deutschland? 37,4 Prozent, allein 20,5 Prozent für die Sozialabgaben. Klar, wir bekommen was dafür. Und müssen nicht zum Zahnarzt ins Nachbarland fahren, wenn eine Füllung drückt. Doch das System ist ein arg wackeliges Kartenhaus: »Das Problem dürfte sich durch den demografischen Wandel noch verschärfen. Das haben wir schon beim kürzlich beschlossenen Rentenpaket II gesehen. Darin hat sich die SPD mit einer Garantie des Rentenniveaus durchgesetzt und die FDP mit dem Start in eine Aktienrente. Um das Ganze zu finanzieren, soll aber der Beitragssatz weiter deutlich steigen«, schreibt mir David. Sein Fazit: »Die OECD-Zahlen zeigen, worüber die Ampel statt steuerfreier Überstunden wirklich streiten müsste.«

3. Angst essen Hirne auf

»Wie geht es Ihnen?« Laaangweilig, eine schnödere Gesprächseröffnung ist kaum denkbar, sagen Sie? Von wegen. Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner meint, »Wie geht es dir?« ist die politischste Frage, die man einem Menschen stellen kann. Davon ist sie so überzeugt, dass sie gleich ein ganzes Buch darüber geschrieben hat. Also jetzt nicht über »Wie geht es dir?«, aber über die Macht der Gefühle: »Viele Menschen denken oder hoffen zumindest, gute Politik sei eine rationale Angelegenheit. Doch das stimmt nicht. Politik ist eine der persönlichsten Angelegenheiten, die es gibt«, hat sie meiner Kollegin Jule Lutteroth im Interview erzählt.

Vor allem über ein Gefühl haben die beiden gesprochen: Angst. In den USA gibt es etwa den seltsamen Fall einer Frau, bei der eine Krankheit das Angstzentrum im Hirn zerstört hat. Sie fürchtet sich nicht. Als ein Team der University of Iowa sie mit giftigen Tieren testete, staunten sie: Gefährliche Schlangen berühren? Aber klar, tat sie. 15 Mal. Sie hätte auch eine Tarantel gestreichelt. Die Forscher hielten sie allerdings ab. »Diese Frau lebt hochgefährlich, weil sie sich ständig unbewusst in Gefahren begibt. Angst ist ein wichtiger Mechanismus, der uns am Leben hält«, sagt Urner. Zu viel Angst allerdings macht dumm: Das Gehirn ist im permanenten Furchttunnel überlastet, kann sich nicht regenerieren, wir können nicht langfristig planen, wenn es kurzfristig darum geht, nicht gefressen oder erlegt zu werden. Angst essen Hirne auf.

  • Was das nun für Folgen für Klimapolitik oder die Debatte über erneuerbare Energien zu tun hat – und warum Maren Urner trotz allem noch Hoffnung hat für uns leidgeplagte Menschlein, lesen Sie hier .

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Gericht hebt Vergewaltigungsurteil von 2020 gegen Harvey Weinstein auf: Die Vorwürfe gegen Harvey Weinstein wegen sexueller Gewalt müssen teilweise neu verhandelt werden. Ein Berufungsgericht entschied, dass in dem New Yorker Prozess Verfahrensfehler gemacht wurden. Der Produzent bleibt jedoch in Haft.

  • 56 Großkonzerne sind für die Hälfte des weltweiten Plastikmülls verantwortlich: Ein Großteil des weltweiten Plastikmülls geht auf wenige Konzerne zurück, zeigt eine neue Studie. Der mit Abstand größte Umweltsünder: Coca-Cola.

  • Aufträge im Wohnungsbau steigen erstmals seit knapp zwei Jahren: Das gab es seit 2022 nicht mehr: Der Wohnungsbau verzeichnet ein kleines Plus bei den Aufträgen. Experten sehen aber noch keinen Grund zur Entwarnung.

  • »Unser Europa kann sterben«: Vor sieben Jahren hielt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine Grundsatzrede zur Zukunft Europas. Damals wurde er für seine Gedanken gefeiert. Heute sprach er erneut an der Eliteuni Sorbonne – und wählte drastische Worte.

  • Trumps Ex-Vertraute Giuliani und Meadows wegen Wahlbetrugs angeklagt: Nächstes juristisches Nachspiel der US-Wahl 2020: Sieben Personen aus dem damals engsten Umfeld von Donald Trump werden in Arizona angeklagt. Sie sollen zur Wahlmanipulation angestiftet haben.

Meine Lieblingsgeschichte heute

Ein riesiger Komet auf Kollisionskurs mit der Erde, ein Planetenkiller, acht Milliarden Menschen vom Tod aus dem All bedroht. Und wie reagiert die US-Regierung? »Ruhe bewahren und sondieren«, flötet Meryl Streep, die in der Netflix-Endzeitkomödie »Don’t look up«  die amerikanische Präsidentin spielt. Dieser Moment im Oval Office ist nur eine von unzähligen herrlich-schauerlichen Szenen des Films, der erschreckend realistisch zeigt, wie Homer-Simpson-artig wir Menschen mit globalen Katastrophen umgehen. Aber ich will hier gar nicht zu viel verraten (falls Sie den Film noch nicht gesehen haben sollten), es geht nämlich eher um den »Don’t look up«-Moment von Elmshorn: In der schleswig-holsteinischen Kleinstadt schlug vor genau einem Jahr ein Meteorit ein, riss einen Krater und beschädigte Häuser in der Nachbarschaft.

Am Boden fanden sich 21 Fragmente des Brockens

Am Boden fanden sich 21 Fragmente des Brockens

Foto: Daniel Bockwoldt / dpa

Das Geschoss hatte allerdings keine Planetenkiller-Ausmaße: 3,7 Kilogramm wog der Stein, der Krater im Garten einer Familie war gerade einmal 40 Zentimeter tief. So was passiert nicht gerade selten: »Jedes Jahr stürzen knapp 18.000 Meteoriten auf die Erde, jeder wiegt mindestens 50 Gramm«, schreibt mein Kollege Christoph Seidler. Das Besondere am Elmshorner Fall: Er ist nicht im ewigen Ozean, der Wüste oder im Eis der Pole niedergegangen. Sondern in der norddeutschen Kleinstadt, wo er sofort gesichert und gemeldet werden konnte. Ein Glücksfall für die Meteoritenexperten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, die den kosmischen Brocken nun analysiert haben. Welche Überraschung sie dabei erlebten und woraus der Meteorit bestand, hat Christoph hier aufgeschrieben, ich lege Ihnen seine spannende Geschichte über den Elmshorner Himmelsbrocken hiermit ans Herz.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Das merkwürdige E-Bike-Verbot für Beamte: Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, muss auf eine App zur Fahrradnavigation verzichten, behauptet Bosch. Was steckt hinter der Meldung? 

  • Wie viel Taylor Swift verträgt die deutsche Politik?: Auf ihre Stimme hören Millionen von Wählerinnen und Wählern: Taylor Swift hat nicht nur kommerziellen Erfolg, sondern auch politischen Einfluss. Das Prinzip auf Deutschland übertragen? Schwierig.

  • Drei Theorien zum Wutbrief des spanischen Premiers: Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez liebäugelt öffentlich mit dem Rücktritt, angeblich wegen einer politisch motivierten Kampagne gegen seine Frau. Nun spekuliert das ganze Land über die wahren Hintergründe .

Was heute weniger wichtig ist

Gag geklaut: In Mittelfranken haben Unbekannte die Scherzmaschine von Comedian Oliver Tissot, 61, gestohlen. Das Gerät spuckte für 20 Cent Kapseln mit Gags aus, Niveau: »Kommt ein Mann in eine Bar und bestellt zehn Bier und zehn Korn…«. 2018 hatte Tissot den Automaten an einer Hauswand installiert, in einer »Nacht-und-Nebel-Aktion« habe jemand diesen nun mit Werkzeug abmontiert und entwendet, so Tissot. Nun fragen sich nicht nur Mittelfranken: Wenn das ein Witz war, was ist die Pointe?

Mini-Hohlspiegel

Aus der »Sächsischen Zeitung«: »Manche Kinder könnten zur Einschulung nicht einmal einen Stift halten oder wüssten nicht, dass zwei mehr ist als vier.«

Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.

Cartoon des Tages

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

Illustration: Klaus Stuttmann

Und heute Abend?

Könnten Sie (mal wieder?) Mozart hören. »Figaros Hochzeit« zum Beispiel. Zum Abendessen (Vorteil: Die berühmte Ouvertüre hat keine Lyrics, Sie können sich also sogar noch unterhalten dabei), mit einem Glas Rotwein vor dem Kamin (kalt genug ist es ja) oder mit Kopfhörern während Ihrer Spätschicht im Fitnessstudio. Falls Ihnen beim Candle-Light-Dinner der Gesprächsstoff ausgehen sollte: »Figaros Hochzeit« hat einst einen Skandal in der High Society verursacht. Weniger wegen der Musik, eher wegen des gewagten Monologs im Ursprungswerk von Joseph-Augustin Caron de Beaumarchais: Adelsbashing, Plädoyer für Frauenrechte, Spott über Ämterkäuflichkeit, Kritik der Zensur. Und das alles VOR der Französischen Revolution. Mon dieu. Ludwig XVI. soll es nicht im Sessel gehalten haben: »Das ist abscheulich. Das wird niemals gespielt werden!« Tja. Wurde es dann doch. Und vielleicht ja heute Abend von Ihnen gehört? Lesen Sie hier die ganze Geschichte des Skandals .


Einen schönen Abend. Herzlich

Ihr Jens Radü, Chef vom Dienst

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