Geschäftsberichte lesen „Dann sehe ich, ob das Unternehmen ein Weltkonzern oder ein Kiosk ist“

Quelle: Getty Images

Wer an der Börse spekuliert, sollte Geschäftsberichte lesen. Doch die sind meist schwere Kost. Nikolaj Schmolcke verrät, wie sich Bilanzen leicht entschlüsseln lassen und welche Kennzahlen Anleger im Blick haben sollten.

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Wie sich ein fünfstelliger Gewinn innerhalb von vier Tagen in einen Verlust von sieben Millionen Euro verwandelt, erlebt Nikolaj Schmolcke im Herbst 2010. Als neuer Finanzchef eines Luftfahrtunternehmens stößt er gemeinsam mit einer Kollegin auf die Bilanzfälschung, die zahlreiche Fachleute zuvor übersehen hatten.

Fälle wie dieser lassen Schmolcke nicht mehr los. „Seither beschäftigt mich das Phänomen, dass offenbar die wenigsten Menschen Bilanzen lesen können. Schlimmer noch: Dass Bilanzen den Ruf haben, langweilige oder gar abschreckende Materie zu sein“, sagt der Diplom-Ökonom, der in seiner Zeit als Finanzchef mehr als 100 Jahresabschlüsse der mittlerweile insolventen Vapiano-Gruppe verantwortet hat. Inzwischen hat er es zu seinem Beruf gemacht, diese Bildungslücken zu schließen: Neben einer Tätigkeit als Berater für Restrukturierung trainiert er Manager und Juristen darin, Geschäftsberichte richtig zu lesen.

„Bilanzen bilden alles ab, was in einem Unternehmen passiert“, weiß Schmolcke. Nicht nur Manager und Juristen, auch Kleinanleger sollten deshalb einen Blick auf die offiziellen Veröffentlichungen der Unternehmen werfen, bevor sie dort investieren. Er ist überzeugt: „Sie sind eine Fundgrube von Wahrheit, Lüge, Hoffnung und Enttäuschung.“

Seine Leidenschaft für die Zahlenwerke hat der Hamburger nun auf 282 Seiten aufgeschrieben und als Buch veröffentlicht. „Offene Geheimnisse – Über die Leichtigkeit, Bilanzen zu lesen und im Geschäftsbericht Überraschungen zu finden“ heißt das Werk, das seit Februar 2024 auf dem Markt ist. Anhand von Details zahlreicher bekannter Unternehmen wie Airbus, BMW, Henkel oder Wirecard erklärt Schmolcke darin leicht verständlich, was in den Konzernen vorgeht. 

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Langes Warten auf die Zahlen

Doch worauf sollten Kleinanleger beim ersten Blick in eine Bilanz denn nun besonders achten? „Bevor man sich eine Bilanz anschaut, sollte man erst einmal gucken, ob es überhaupt einen Abschluss gibt“, sagt Schmolcke. Dass Unternehmen ihre Geschäftszahlen veröffentlichen, ist nämlich gar nicht so selbstverständlich.

Ein Negativbeispiel ist die zuletzt in die Schlagzeilen geratene Signa-Gruppe des österreichischen Immobilieninvestors René Benko. Die Signa Holding und die Signa Prime Selection AG veröffentlichten ihre Abschlüsse teils sehr spät. Bei der Prime dauerte es bis zu fünf Jahre nach dem Stichtag, bei der Holding bis zu vier Jahre. Für Kleinanleger sollte das ein Warnzeichen sein. „Wer nicht veröffentlicht, hat ein Problem oder etwas zu verbergen oder beides“, sagt Schmolcke. 

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Vor einer Veröffentlichung sollen die Wirtschaftsprüfer den Abschluss unterzeichnen, was sich hinziehen kann, wenn sie Schwierigkeiten haben, alle erforderlichen Belege zu sichten. Probleme hatten die Prüfer zuletzt unter anderem bei der Wirecard AG. Sie unterzeichneten die Abschlüsse 101 und 114 Tage nach den Stichtagen 2017 und 2018. An eine Veröffentlichung innerhalb der 90 Tage, die der deutsche Kodex für Corporate Governance empfiehlt, war nicht mehr zu denken.

Gesetzlich sind zwar höchstens 120 Tage vorgeschrieben, was Wirecard geschafft hatte, aber wenn ein Unternehmen länger als 90 Tage benötigt, sollten Anleger genau hinhören, wie Vorstände die Verspätung erklären, rät Schmolcke. Sie tun dies in der sogenannten Entsprechenserklärung, die alle börsennotierten Unternehmen veröffentlichen.

Kiosk oder Weltkonzern?

Anschließend empfiehlt der Experte einen ersten Blick auf den Umsatz. „Dann sehe ich, ob das Unternehmen ein Weltkonzern oder ein Kiosk ist“, sagt er. Doch auch hier ist Vorsicht geboten: Im Fall Wirecard wurden Umsätze verbucht, die gar nicht existierten. Der Finanzdienstleister hatte über Jahre bilanziell zunehmend mehr Geld in der Kasse, als er jährlich als Umsatz zeigte.

„Die Sache stank seit Jahren zum Himmel, und damit steht sozusagen ein Elefant im Raum. Es ist die Frage: Warum hat das niemand gemerkt?“, kommentiert Schmolcke.

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Das Interesse des Finanzexperten war jedenfalls geweckt. Er setzte er sich fünf Stunden in ein Büro, schaltete das Handy aus und durchforstete die Wirecard-Bilanzen. Schnell zeigte sich dem Fachmann ein Muster des Betrugs. Fälle wie Wirecard sind eine Ausnahme, doch wenn Schmolcke heute über Details aus kritischen Geschäftsberichten erzählt, staunen viele seiner Gesprächspartner. „Diesen Effekt, dass man sich den Abschluss anguckt und denkt, das gibt es doch gar nicht, den erlebe ich immer wieder“, berichtet Schmolcke.

Nach dem Blick auf den Umsatz sollte sich ein Kleinanleger fragen, ob das beobachtete Unternehmen Überschüsse erwirtschaftet. „Die Frage nach dem Gewinn ist die Frage: Wie geht es dem Unternehmen?“, erläutert der Finanzexperte. Die Antwort darauf ist mit einem Blick in der Gewinn- und Verlustrechnung zu finden. Hat sich das Geschäftsjahr finanziell gelohnt, weist das Unternehmen einen Gewinn aus.

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Doch auch hier gibt es Spielräume, die kreative Unternehmer nutzen, um Kennzahlen möglicherweise etwas zu schönen. Dabei kommen Rückstellungen ins Spiel, die ursprünglich für  drohende Auszahlungen gebildet werden müssen, die im Geschäftsjahr verursacht wurden, aber erst in der Zukunft anfallen. Juristisch geht daran kein Weg vorbei, doch bieten Rückstellungen Spielraum für Bilanzpolitik. „Eine gute Buchhaltung arbeitet, wie Eichhörnchen es tun: Sie vergräbt in guten Zeiten so viel Gewinn in den Rückstellungen, wie es nur geht, damit sie in schlechten Zeiten etwas davon auflösen und so das Unternehmen in die schwarzen Zahlen retten kann“, erzählt Schmolcke. 

Die bereinigte Bilanz

Er verweist auf den Volkswagen-Konzern, der 2022 einen Rekordgewinn von 15,8 Milliarden Euro vermeldete. VW löste in dem Jahr jedoch auch Rückstellungen in Höhe von 4,9 Milliarden Euro auf. Dazu kamen weitere Einzeleffekte wie aktivierte Eigenleistungen und Bestandsveränderungen – ebenfalls in Milliardenhöhe. „Ohne diese Beiträge beliefe sich der Konzerngewinn nicht auf 15,8 Milliarden Euro, sondern auf etwa 4,3 Milliarden Euro. Bei einem Umsatz von fast 280 Milliarden Euro könnte man das als etwas dünn empfinden“, sagt der Diplom-Ökonom.

Immer häufiger nutzen Unternehmen zudem „bereinigte“ Kennzahlen – teils, ohne auf die Bereinigung hinzuweisen. Die Auto1 Group, ein Gebrauchtwagenhändler mit mehr als 6000 Mitarbeitern, ließ es sich nicht nehmen, im November 2023 mitzuteilen, dass sie im vergangenen Quartal die Profitabilität erreicht habe. Am Jahresende stand jedoch ein Konzernergebnis von minus 120 Millionen Euro. Auch der Modeversand About You schrieb 2023 von „Profitabilität“ bezogen auf das vergangene Quartal – und zielte damit nur auf das bereinigte Ebitda ab.

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Um auf eine positive Kennzahl zu kommen, reichte es bei About You, die aktienbasierten Vergütungen aus dem Ebitda herauszunehmen, obwohl auch diese am Ende für die Aktionäre echte Kosten bedeuten durch Verwässerung ihrer Anteile und geringeren Cashflow pro Aktie. Nikolaj Schmolcke nutzt bereinigte Kennzahlen nicht, um Unternehmen zu analysieren: „Ich berücksichtige diese Informationen nicht und denke lieber selbst“, flaxt er.

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