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Angehörige deutscher Hamas-Opfer »Nur ein Deal wird die Geiseln zurückbringen«

Vor mehr als 200 Tagen hat die Hamas ihre Geiseln in den Gazastreifen verschleppt, die meisten Angehörigen haben noch immer kein Lebenszeichen. Versteckt werden einige wohl auch bei Privatfamilien anderer Terrorgruppen.
Hagit Chen, Mutter der israelischen Geisel Itay Chen

Hagit Chen, Mutter der israelischen Geisel Itay Chen

Foto: Christoph Soeder / dpa / picture alliance

Das Schlimmste, sagt Yuval Buchshtab, sei die Ungewissheit. »Wir haben keine Möglichkeit, an Informationen zu kommen. Alle wollen sehr gern helfen, aber keiner kann es. Außer der Hamas

Yuval, 27, ist der jüngere Bruder von Yagev Buchshtab, 34. Der Israeli und seine Frau Rimon Kirsht-Buchshtab sind zwei von 240 Menschen, die bei dem Terrorangriff am 7. Oktober 2023 von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden. Seine Frau wurde Ende November freigelassen, vor einem Monat veröffentlichte die Hamas über ihren Telegram-Kanal ein Video, in dem sie behauptete, Yagev sei tot.

»Das war ein Moment großer Verzweiflung, ein furchtbares Gefühl der Bedrängnis«, sagt Yuval am Telefon. »Es war das erste Mal, dass ich verstand, dass Yagev vielleicht nicht zurückkommen wird. Bis zu dem Moment habe ich es geschafft, stark zu bleiben.«

Die Familie Buchshtab ist nicht nur mit israelischen Regierungsvertretern in ständigem Kontakt, sondern auch mit der deutschen Botschaft. Denn der verschleppte Yagev besitzt auch die deutsche Staatsbürgerschaft.

Hagit Chen (rechts), Yuval Buchshtab (Mitte)

Hagit Chen (rechts), Yuval Buchshtab (Mitte)

Foto: Christoph Soeder / dpa / picture alliance

134 Geiseln werden noch immer von der Hamas in Gaza festgehalten. Wie viele von ihnen noch leben, kann keiner sagen. Die Hamas setzt Nachrichten wie die über den angeblichen Tod von Yagev zur psychologischen Kriegsführung ein. Ob die Informationen stimmen, kann niemand sagen. Erst wenn die israelische Armee selbst eindeutige Beweise hat, zum Beispiel menschliche Überreste, erklärt sie eine Geisel für tot.


Hagit und Ruby Chen erhielten die furchtbare Nachricht Mitte März. Mit dem SPIEGEL sprechen sie per Videoschalte von ihrem Zuhause in der israelischen Küstenstadt Netanja aus.

Hinter ihnen ist ein großes Foto ihres Sohnes zu sehen. »Wir wurden informiert, dass Itay nicht lebend zurückkommt«, sagt die Mutter. »Es ist sehr schwer, mit dieser Information zu leben. Obwohl Itay nicht lebend zurückkommt, ist er immer noch eine Geisel. Wir konnten ihn nicht bestatten, wir konnten nicht Shiv’a sitzen.« Shiv’a, das ist im Judentum die Zeit der Trauer in der ersten Woche nach dem Begräbnis, an dem die Angehörigen sich zu Hause versammeln.

Außenministerin Annalena Baerbock traf sich während ihrer sieben Israelreisen seit dem 7. Oktober mehrmals mit den Familien der Geiseln mit deutschem Pass. Bei ihrem letzten Besuch regten die Familien der Verschleppten an, dass alle Staaten, deren Staatsbürger in der Geiselhaft der Hamas sitzen, ein gemeinsames Statement veröffentlichen.

Gespräche über einen möglichen Deal

So erklärten vergangene Woche die Regierungen von Argentinien, Brasilien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Kanada, Kolumbien, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Serbien, Spanien, Thailand, Ungarn und der USA: »Wir fordern die unverzügliche Freilassung aller Geiseln, die seit mehr als 200 Tagen von der Hamas in Gaza festgehalten werden. Darunter sind auch unsere Staatsbürger.«

Der Krisenstab der Bundesregierung beobachtet die Lage der verbliebenen Geiseln mit viel Aufwand, jedem Hinweis aus dem Gazastreifen wird nach SPIEGEL-Informationen intensiv nachgegangen. Seit dem Beginn der Krise Anfang Oktober haben das Auswärtige Amt (AA) und die Sicherheitsbehörden Verbindungsbeamte in Israel stationiert, die engen Kontakt zu den örtlichen Behörden halten, allen voran zum israelischen Geheimdienst Mossad, der auch die Gespräche über einen möglichen Deal mit Emissären der Hamas in Katar und Ägypten führt. Um am Ball zu bleiben, wurden die Beamten bis heute nicht abgezogen.

Sitzung des Krisenstabs der Bundesregierung zur Lage im Nahen Osten unter Leitung von Außenministerin Baerbock

Sitzung des Krisenstabs der Bundesregierung zur Lage im Nahen Osten unter Leitung von Außenministerin Baerbock

Foto: Thomas Koehler / photothek / IMAGO

Zwar sind bei den ersten Freilassungen von Geiseln viele Israelis freigekommen, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Bis heute aber vermutet der Krisenstab mehrere deutsche Staatsbürger in Geiselhaft. Details will das Haus von Ministerin Annalena Baerbock nicht nennen, nach SPIEGEL-Informationen geht es um eine niedrige zweistellige Zahl. Jens Jokisch, der Krisenbeauftragte im AA, hält engen Kontakt zu den Angehörigen, einmal die Woche informiert er sie in einer Videoschalte über den Stand der Dinge.

Viel Hoffnung kann Jokisch den Angehörigen derzeit nicht machen. Zwar gibt es weiterhin Gespräche über einen Geiseldeal zwischen Israel und der Hamas. Just am Wochenende wurde bekannt, dass zumindest ein kleinerer Deal in greifbare Nähe gerückt sei. Insider sprachen von einem Abkommen auf humanitärer Basis, bei dem zwei Dutzend Geiseln, vor allem Frauen, Kranke und ältere Männer freikommen könnten.

Im Gegenzug würde Israel eine unbekannte Anzahl Palästinenser aus Gefängnissen entlassen. Wie lang eine für den Deal nötige Waffenruhe halten müsste, ist noch unklar.

Allerdings gehen die westlichen Geheimdienste davon aus, dass eine größere Gruppe der Geiseln, darunter wohl auch deutsche Staatsbürger, gar nicht von der Terrormiliz Hamas, sondern von anderen Palästinenser-Organisationen im Gazastreifen festgehalten werden. Bereits mehrmals haben die Emissäre der Hamas dies wohl bei den diskreten Gesprächen über einen möglichen Geiseldeal als Grund genannt, warum sie nicht für die Freilassung aller Geiseln garantieren können.

Auch der Krisenstab geht derzeit Hinweisen nach, dass eine größere Gruppe von Geiseln bei Privatfamilien von Kämpfern der Gruppen »Popular Resistance Committee« (PRC) und des »Palestinian Islamic Jihad« (PIJ) festgehalten werden und wie man Kontakte zu den Gruppierungen aufbauen kann.

Als Beleg für die Annahme gilt ein Zugriff der israelischen Spezialkräfte, die im Februar zwei Geiseln aus dem zweiten Stock eines zivilen Wohnblocks befreiten. Die Kommandoaktion gelang, weil sich in der Wohnung keine Kämpfer der Hamas befanden und die Soldaten auf keinen Widerstand stießen.


Die Familien der Geiseln fürchten, dass mit jedem Tag die Chancen auf eine Rückkehr der Geiseln schwinden. Ruby Chen sagt, die Zeit laufe nicht nur für die noch lebenden Geiseln davon, sondern auch für die Toten. »Auch die toten Geiseln haben keine Zeit. In sechs Monaten oder einem Jahr werden wir sie vielleicht nicht mehr finden. Jetzt können wir sie finden.«

Außenministerin Baerbock, deutscher Botschafter Seibert am 16. April mit den Eltern von Itay Chen in Jerusalem

Außenministerin Baerbock, deutscher Botschafter Seibert am 16. April mit den Eltern von Itay Chen in Jerusalem

Foto: Kira Hofmann / photothek / IMAGO

Die bisherige Militärstrategie halten die Eltern von Itay und der Bruder von Yogev für gescheitert. Es sei vom ersten Tag des Krieges an nicht die oberste Priorität der Regierung von Premier Benjamin Netanyahu gewesen, die Geiseln freizubekommen, sondern die Hamas zu zerstören, sagt Ruby Chen.

»Die Regierung hat uns erzählt, wenn wir den militärischen Druck auf die Hamas erhöhen, werden sie auf Knien um einen Deal bitten«, so der 55-Jährige. »Wenn es etwas gibt, was wir in den letzten sechs Monaten gelernt haben, dann dies: Militärischer Druck allein wird die Geiseln nicht zurückbringen.« Und seine Frau Hagit ergänzt: »Nur ein Deal wird die Geiseln zurückbringen.«

Am vorletzten Samstag traten die Eltern von Itay bei der Demonstration auf, die jede Woche in Tel Aviv stattfindet. In ihrer Rede wandten sie sich direkt an Premier Netanyahu und erinnerten ihn an seinen Bruder Yonathan, der 1976 bei der Geiselbefreiung von Entebbe ums Leben kam. Der Premierminister habe ein Grab, an dem er seinen Bruder besuchen könne. Wann werden wir eines haben?, fragten sie.

»Itay ist ein Held. Er rettete vielen Juden das Leben«, sagt Ruby Chen am Telefon. »Er hat einen Platz für sich und seine Seele verdient.«