Politik

Reisners Blick auf die Front "Die Ukraine versucht, Brennpunkte zu schaffen"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos | Feedback senden

Die ersten reichweitenstarken ATACMS aus dem jüngsten US-Waffenpaket stehen der Ukraine wohl zur Verfügung, doch warum macht sich das noch nicht durchschlagend bemerkbar? Oberst Reisner erklärt ntv.de die Frontlage, was für einen Erfolg der Ukraine nötig wäre und warum der richtige Zeitpunkt so entscheidend ist.

ntv.de: In drei Tagen feiert Russland den 9. Mai als Tag des Sieges über die Nationalsozialisten und strebt wie im letzten Jahr an, zu diesem Anlass eine militärische Erfolgsmeldung zu produzieren. Wird das gelingen?

Markus Reisner: Das versucht das Oberkommando der russischen Truppen mit aller Vehemenz. Im Internet kursieren Videos, die nordwestlich von Awdijiwka Rückzugsbewegungen der Ukraine zeigen und parallel dazu vormarschierende Russen. Auch westlich von Bachmut spitzt sich die Situation zu, dort wollen die russischen Truppen die Höhe bei Tschassiw Jar in Besitz nehmen. Ein natürliches Hindernis bildet dort ein vorgelagerter Kanal, der allerdings an drei Stellen unterirdisch verläuft. Nun versuchen die Russen, genau diese Stellen zu besetzen, um darüber mechanisierte Verbände, also Panzer ins Zielgebiet zu bringen und angreifen zu können.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Und die Ukrainer können da noch gegenhalten?

Die Ukraine hat kaum operativ verfügbare kampfkräftige Reserven und kann diesen Angriffen daher kaum kraftvolle Gegenstöße entgegensetzen. Fliegerabwehr fehlt, daher setzt Russland praktisch ungehindert seine Gleitbomben und Artillerie ein, die den vorrückenden Truppen den Weg frei bomben oder schießen.

Weiter durchzuhalten, bis westliche Hilfe endlich in größeren Mengen eintrifft – gibt es dazu noch eine Alternative?

Die Ukraine versucht derzeit zumindest sporadisch, auch selbst an verschiedenen Stellen in die Offensive zu gehen. Wir sehen zum Beispiel bei Krinky neuerliche Anlandungen von ukrainischen Marinesoldaten und auch nordostwärts von Krinky, circa 30 Kilometer entfernt, vermutet man, dass ein neuer Brückenkopf gebildet werden soll. Im Überschwemmungsgebiet südwestlich von Cherson, rund 20 Kilometer entfernt, scheint das tatsächlich schon gelungen, dort hat das ukrainische Militär einen neuen Brückenkopf installiert und das bindet jetzt russische Kräfte, die versuchen, diesen Brückenköpfen etwas entgegenzustellen oder sie zu zerschlagen.

Die Ukrainer kämpfen noch immer mit Munitionsknappheit und fehlender Fliegerabwehr, zugleich verlangt eine erfolgreiche Offensive eigentlich eine militärische Überlegenheit von 3 zu 1 oder mehr. Nutzen sich die ukrainischen Truppen dann nicht ab für wenig oder gar keinen Effekt?

Die Ukraine versucht, mit diesen Offensiven entlang der Frontlinie zusätzliche Brennpunkte zu schaffen, die die russische Seite zwingen, Truppen dorthin zu verlagern. Das gleiche hat Russland in beiden Winter-Offensiven mit der Ukraine gemacht und sie entlang der gesamten Front gezwungen, die ganze Zeit Verteidigungskräfte von A nach B zu verschieben. Die Ukraine versucht jetzt, dasselbe zu tun, und zwar in für sie besonders günstigen Geländeabschnitten. Das ist vor allem das Überschwemmungsgebiet in der südlichen Ukraine, also entlang des Dnepr, südlich von Cherson.

Wie antworten die Russen auf diese Vorstöße?

Als erste Antwort gegen diese Brückenköpfe setzt Russland Artillerie ein, aber vor allem auch Gleitbomben. Und jede Gleitbombe, die in diese Brückenköpfe investiert wird, fehlt dann an entscheidender Stelle im Raum Bachmut oder Awdijiwka. Das ist das Kalkül der Ukraine dahinter: die Russen zu zwingen, nicht mehrere signifikante Schwergewichte an der Front bilden zu können, sondern sich zu verzetteln. Ob diese Taktik aufgeht, wird erst in der Rückschau feststellbar sein.

Sind die westlichen Waffenlieferungen schon irgendwo als neuer Faktor sichtbar?

Auf operativer Ebene sehen wir, wie die ukrainischen Regionalkommandeure an der Front versuchen, die vorhandene Munition zu verteilen und die Ressourcen den Kräften zur Verfügung zu stellen, die jetzt am meisten unter Druck sind. Wir sehen sporadisch den Einsatz amerikanischer ATACMS, aber es gibt noch keinen vergleichbaren Effekt wie 2022 mit den HIMARS-Raketen. Die Ukraine ist also noch nicht in der Lage, signifikant die Kommando- und Versorgungsstrukturen der Russen - also Gefechtsstände, Versorgungsknotenpunkte, Logistikzentren - in der Tiefe anzugreifen. Und das müsste man erkennen können, um die Angriffe als messbaren Erfolg zu werten. Es könnte aber sein, dass die Russen mittlerweile in der Lage sind, diese Systeme sehr effektiv abzuwehren.

Dann wäre es inzwischen ebenso schwierig, weitreichende Raketen vom Typ ATACMS ins Ziel zu bringen, wie auch bereits die SCALP und Stormshadow Marschflugkörper?

Es ist kein Geheimnis, dass aufgrund der sehr gezielten Störmaßnahmen der Russen die Präzisions-Waffensysteme, die der Westen der Ukraine schickt, nicht so eingesetzt werden können, wie man das aus dem Irak oder Afghanistan kennt. Als Beispiel: Es gibt hier endphasengesteuerte Artilleriemunition mit dem Namen Excalibur. Das sind Granaten, die faktisch bis zum Einschlag gesteuert werden können. Diese Excalibur hatten zu Beginn des Krieges eine Trefferwahrscheinlichkeit von circa 70 Prozent. Mittlerweile ist sie auf 6 Prozent gesunken, und zwar aufgrund von Störmaßnahmen der Russen.

Wie sieht das aufseiten der Ukraine aus? Kann sie wiederum auf diese gesteigerten Fähigkeiten der russischen Truppen reagieren? Kann sie ihrerseits Angriffe stören?

Die ukrainische Seite hat hier das Problem, dass sie zwar Hilfslieferungen bekommt aus dem Westen, aber das sind oft nur Insellösungen: qualitativ hochwertig, aber bei der langen Front und der Doppelaufgabe - Schutz der Fronttruppen und Schutz des Landes gegen Marschflugkörper, ballistische Raketen und iranische Drohnen - absolut nicht ausreichend. Die Ukraine versucht dann, durch Zusammenziehung von entsprechenden Geräten einen Überhang zu bilden. Denken Sie an den Brückenkopf bei Krinky, wo es gelungen ist, die Russen so zu stören, dass eine Art Schutz-Blase im elektromagnetischen Feld entstand, unter der die Ukraine operieren konnte. Bis die russische Seite die Störsender aufgeklärt und angegriffen hat.

Wenn es darum geht, die Ukrainer mit mehr Material auszustatten, steht vielen Ideen im Weg, dass es oft Jahre dauert, Waffen oder Munition erstmal herzustellen. Das kann doch aber bei Störsendern nicht so ein Problem sein wie bei einer Patriot-Batterie, oder?

Die Störsysteme sind nicht derart komplex wie es moderne Raketensysteme mittlerer und hoher Reichweite sind. Natürlich darf man das nicht unterschätzen, aber es wäre ein Leichtes, relativ rasch eine hohe Anzahl dieser Störer zu produzieren, die in der Ukraine einerseits First-Person-View-Drohnen abwehren könnten, aber auch Gleitbomben. Die fliegen nämlich auch mit GPS, das könnte man stören.

Warum setzen die westlichen Unterstützer dann nicht viel mehr auf diese billigeren, schneller gebauten und offensichtlich effektiven Waffen?

Seit Beginn des Krieges stehen aus meiner Sicht zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Die eine ist, wirklich all in zu gehen, der Ukraine ohne Zeitverzug zu liefern, was sie braucht. Ohne Zeitverzug, damit diese Systeme nicht immer wieder in Teilen geschlagen werden, weil sie nur im Waffenverbund und im massierten Einsatz funktionieren. Als vereinfachtes Beispiel: Der Leopard allein macht keinen Unterschied, aber der Leopard mit dem F16 Kampfflieger kann einen großen Unterschied machen. Und wenn die Ukrainer sagen, wir brauchen 300 Panzer, dann sollten wir nicht 30 liefern, sondern 300.

Der Westen praktiziert aber die andere Möglichkeit?

Wir liefern Waffen und Munition nicht in der Menge und auch nicht zu dem Zeitpunkt, wenn sie benötigt werden. Die Ukraine versucht, ihre Strategie danach auszurichten. So wie im letzten Jahr die Entscheidung, von der Offensive in die Defensive zu gehen. Oder der aktuelle Versuch, nun selbst eine Rüstungsindustrie anzuwerfen, was aber schwierig ist, weil die kritische Infrastruktur schon schwer getroffen ist und täglich weiter beschossen wird. Da wir also offensichtlich die zweite Möglichkeit wählen, sollte das allerdings auch so kommunizieren werden, dass vom Westen in näherer Zukunft keine entscheidende Unterstützung zu erwarten ist, die einen wirklichen Unterschied macht. Im Moment erlebt die Ukraine ein elendes Fegefeuer. Sie ist gefangen zwischen zukünftiger Hoffnung und täglicher Hölle.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen